Die Fabrikbrache oder die nicht mehr gebrauchte Schweiz – der Wandel vom Substanz – zum Ertragswertdenken! 

Referat, gehalten am 30. April 1999 vor Architekten und Baufachleuten im Rahmen einer privaten Diskussionsveranstaltung. 

Hohe Staatsquoten, Vorschriften, sich multiplizierende Gesetze, Gebühren, aber auch die Nivellierung in Ausbildung und Technologie sowie die arbeits politisch absurd tiefen Transportkosten weltweit haben unter anderem die schweizerische Konkurrenzfähigkeit schwinden lassen. Die Margen vermögen die Kosten unserer Produkte nicht mehr zu decken, und unsere Kunden im Ausland wie im Inland sind nicht mehr bereit, für viele Produkte überhöhte Preise zu bezahlen.

Die reorganisierte Finanzwelt hat diese Entwicklung vorweggenommen und die Kapitalströme vorzeitig in Richtungen geleitet, die dank tiefen Kosten, unkomplizierter Gesetzgebung und allgemein kurzen Entscheidungswegen wesentlich bessere Renditen und auch höhere Sicherheit versprechen.

Immer mehr Menschen in unserem Thurgau wie auch in der übrigen Schweiz fühlen sich durch die restriktive Kreditpolitik der Banken bedrängt, ja geradezu schikaniert – dies obwohl das Zinsniveau tiefer ist als in den vergangenen Jahren. Als weitere Ungerechtigkeit muss empfunden werden, dass die Banken (und nur die Banken) zu Tiefstzinssätzen von unter 1 % bei unserer Nationalbank – also aus unserem Volksvermögen – seit Jahrzehnten Milliardenbeträge entlehnen dürfen. Dem Konsumenten, Unternehmer, Arbeiter, Landwirt und Gewerbetreibenden bleiben solche günstigen Direktbezüge verschlossen. Unverständlich ist dabei, dass den Banken seitens der Nationalbank nicht die geringsten Vorschriften gemacht werden, wie und wo sie dieses Geld anlegen dürfen. So fliesst das in unserer Volkswirtschaft verdiente und über Jahre bei der Nationalbank angehäufte Kapital vielfach in Entwicklungsländer, wo es für industrielle Zwecke zur Verfügung gestellt wird. Diese Gelder stärken unsere Konkursrenten im Ausland, führen uns äusserst billige Importe zu und konkurrenzieren bzw. vernichten damit unsere Arbeitsplätze – anfänglich in Industrie und

Gewerbe, später jedoch auch im Dienstleistungsbereich. Denn es ist eine Illusion zu glauben, in einem Land ohne Produktion könne der Dienstleistungsbereich langfristig florieren!

Die Vernichtung unserer Konkurrenzfähigkeit mittels unseres eigenen Volksvermögens wäre ein abendfüllendes Thema. Entsprechend dem gestellten Thema befasse ich mich im folgenden jedoch mit einer Konsequenz dieser Entwicklung – den leeren Fabriken und was daraus entstehen kann.

Geschichtliche Entwicklungen, Substanzglaube, technologischer Umbruch, Probleme der Freizeitbewältigung, Zonenplanvorschriften, politische Clichévorstellungen und sich als Machtwirtschaft gebärende Marktwirtschaft – all dies beeinflusst das wirtschaftlich wie kulturell wichtige Thema «Fabrikliegenschaften leerstehend» – in einer vielleicht bald nicht mehr gebrauchten Schweiz.

Die Zeitschrift «Hochparterre» hat mich erstmals im Zusammenhang mit «Fabrikliegenschaften» – alten und neuen – mit dem Begriff «Brache» konfrontiert, ohne dass ich ihn einzuordnen wusste. Die «Brache» als altschweizerisches Längenmass für die Elle war damit nicht gemeint. Fündig wurde ich in der Landwirtschaft, die seit einigen Jahren diesen Begriff nicht mehr benötigt, da sie dank Dünger und Chemie nichts mehr «brachliegen» lässt und somit diesen Begriff – nach hunderten von Jahren Verwendung – kostenlos an die Industrie abtreten konnte. So fragen wir uns heute kollektiv, was wir mit diesen «Brachen», die mit Vorschriften und Altlasten behaftet und häufig am Verfallen sind, anfangen sollen. In den meisten Fällen handelt es sich um Werte, die einerseits zu teuer sind, um entsorgt zu werden, anderseits jedoch Investitionen benötigen, um nicht zu Negativwerten zu verkommen. Kurzum «Brachen» sind meistens schwierige Fälle!

«Was tun mit den in der Schweiz nicht mehr gebrauchten Fabriken?» Bevor wir uns darüber tiefere Gedanken machen, sollten wir uns fragen, woher kommt dieses Gut beziehungsweise diese Substanz? Welche Bedeutung hatte «Substanz» bis vor kurzem, welche Bedeutung hat sie heute und welche wird sie in Zukunft haben?

Das klassische Beispiel für Substanz sind Immobilien. Sie stellen messbare, fassbare und bis vor kurzem sichere Werte dar. Dies trifft auf ganz Europa im allgemeinen und auf die Schweiz im besonderen zu.

Die Schweiz hat, seit sie sich 1515 aus fremden Händeln zurückzog und seither von kriegerischen Wirren weitgehend verschont geblieben ist, ein ausgeprägtes Substanzdenken entwickelt. Damit lag sie solange richtig, als die Befriedigung der Grundbedürfnisse – also die Produktion – vorherrschend war.

Stabilität und das Verschontbleiben von willkürlicher Vernichtung infolge regelmässig wiederkehrender kriegerischer Wirren haben bei uns den Substanzglauben nachhaltig gefördert. Substanz wurde und wird auch heute noch von vielen als Zeichen des Erreichten, als Errungenschaft, verstanden.

Die Inflation hat nicht nur dem Staat, sondern auch den Privaten als Schuldentilger gedient und ihnen bis zum Anfang der neunziger Jahre, ohne besonderen Kampf, die Eigenkapitalbasis verstärkt.

Dieser Glaube an die Unumstösslichkeit der Substanz hat uns die alte Betriebswirtschaftslehre vergessen lassen, wonach Substanz nur solange einen Wert hat, wie sie einen Nutzen abwirft. Bis vor kurzem warf Substanz einen relativ hohen Nutzen ab.

Politische Stabilität, Fleiss, unternehmerischer Geist und gute Schulung, berglerische Sparsamkeit und Glück haben vielen Erfolge gebracht und damit nicht nur einen unzerrüttbaren Substanzglauben entwickelt, sondern Substanz an sich zu einem Wert gemacht. Parallel dazu hat sich unsere Wirtschaft revolutionär entwickelt – von der viel Platz beanspruchenden industriellen Produktion mit grossem Liegenschaftenbesitz zu einer Dienstleistungs- und Informatikgesellschaft mit weit geringerem Platzbedarf und mit rationelleren Methoden. Zu lange haben wir es uns in der Schweiz leisten können – getragen vom allmächtigen Substanzglaube – Besitzstandswahrung zu betreiben und dabei die wirtschaftlichen Triebfedern Risikobereitschaft und Erneuerung stark zu vernachlässigen, ja teilweise zu vergessen. Wir haben während langer Zeit verdrängt, dass Substanz nur soviel wert ist, wie sie Nutzen abwirft.

Am Beispiel der Unternehmensbewertung können wir den Wandel besonders gut nachvollziehen. In den sechziger Jahren und teilweise noch bis in die achtziger Jahre hinein wurde ein Unternehmen bewertet, indem man das Mittel aus Substanzwert und kapitalisiertem Ertragswert bildete und dabei in gewissen Fällen den Substanzwert sogar noch höher gewichtete als den Ertragswert. Nur nebenbei wurden noch Fragen zum Management, zur Organisation und zu den Produkten gestellt.

Demgegenüber wurde Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre eine radikale Kehrtwendung vollzogen. Praktisch alleinbestimmend ist heute der Ertragswert, der Substanzwert spielt praktisch keine Rolle mehr oder wird sogar in Extremfällen als Belastung negativ bewertet. Alles entscheidende Faktoren sind die Zukunftschancen eines Unternehmens, die Einschätzung der Marktchancen seiner Produkte, der Standort, die Vertriebskanäle und die Qualität des Managements. Nicht mehr der im Eigenbesitz stehende Hochseedampfer ist gefragt, sondern das rasche und bewegliche Schnellboot, das gemietet oder geleast ist.

Trotzdem, Substanz ist nicht wertlos, wir müssen sie nur so nutzen, dass sie wieder Ertrag abwirft. Wir müssen darin neues Leben aufblühen lassen und neue Arbeitsplätze schaffen. «Desillusionierung ist der erste Schritt zur Besserung!»

Wenn wir unsere Substanz nutzen wol len, so müssen wir zunächst folgendes realisieren:

  1. Durch unsere Gesetzgebung im Raumplanungs- und Umweltschutzbereich auf eidgenössischer Ebene sowie durch die kantonalen Bau und Planungsgesetze und die Festlegung von Zonenplanordnungen sind die Nutzungsmöglichkeiten der alten «Fabrikbrachen» teilweise sehr eingeschränkt. Hier besteht Handlungsbedarf.
  2. Durch die zunehmende Einstellung der industriellen Produktionen in unserem Land – als Folge der Produktionsverlagerung ins Ausland oder ganz einfach der Einstellung der Produktion – schiessen «Industriebrachen» wie Pilze aus dem Boden. Es droht ein Überangebot.
  3. Dank neuer Technologien insbesondere im Kommunikationsbereich spielt die Standortfrage eine immer untergeordnetere Bedeutung und die Platzbeanspruchung wird zunehmend geringer. Das begünstigt auch «Brachen» in abgelegeneren Regionen.
  4. Immer mehr Wohnungen werden defacto als Arbeitsplätze mit gemischter Nutzung eingesetzt.
  5. Viel Raum für Repräsentation und Prestige ist nicht mehr gefordert. Effizienz ist gefragt. Keine Sekretärin zu haben ist geradezu ein Leistungsausweis.

Die Wirtschaft läuft, aber sie läuft heute anders. Marktwirtschaft kennt keine Nationalität, und sie hat auch keinen nationalen Zweck. Marktwirtschaft verhält sich wie das Wasser. Sie fliesst dorthin, wo der Widerstand am geringsten ist. Zur Zeit fliesst sie von den 41’000 km2 Schweiz in alle Himmelsrichtungen weg.

Das ist gefährlich, und hier müssen wir den Hebel ansetzen, wenn wir die «Industriebrachen nicht vergammeln lassen, sondern zu neuem Leben erwecken wollen. Auch wenn uns die Statistiker nach wie vor schwarz auf weiss vor Augen führen, dass in unserem Land die durchschnittlichen Einkommen am höchsten sind, so ist es eine Realität, dass die damit zu erzielende Kaufkraft sinkend und bald einmal tiefer ist als in unseren Nachbarländern mit durchschnittlich tieferen Einkommen! Diese Entwicklung muss gestoppt werden.

Am Beispiel der «Brachen» zeigt es sich fast exemplarisch. In der Vergangenheit illustriert ihr Schicksal den Untergang der industriellen Produktion in der Schweiz. Heute liegen sie teilweise bereits renoviert, teilweise jedoch noch «brach» da. Wenn sie eine Zukunft haben wollen, was wünschbar ist, so sind sie wiederum aufs engste mit der wirtschaftlichen Entwicklung unseres Landes zu verbinden.

Rund 50 Millionen m2 brachliegende bebaute Flächen stehen zur Zeit ungenutzt der Wirtschaft zur Verfügung. Bei einem Mietertrag von Fr. 50.– / m2 stellt dies pro Jahr eine Summe von 2,5 Milliarden Franken dar. Kapitalisiert mit 8,5 % ergibt dies einen Gesamtwert von rund 30 Milliarden Franken, welcher der Wirtschaft zur Verfügung gestellt werden kann.

Für die «Brachen»besitzer bietet dies die einmalige Chance, jüngeren und kapitalschwachen Unternehmen günstigen und zweckmässigen Raum zur Verfügung zu stellen und damit einen grossen Beitrag zur Wiederbelebung unserer Wirtschaft zu leisten.

 

April 1999

Dieser Beitrag stammt aus meinem Büchlein „Klare Meinungen – zu früh ausgesprochen?“, veröffentlicht im Jahr 1999.