Hütet Euch am Morgarten: Ja zum EWR
Artikel im «Anzeiger von Kerzers», Nr. 48, 3. Dezember 1992.
Am 6. Dezember stimmen wir über den EWR-Vertrag ab. Nach langem Ringen fällt meine Entscheidung nun positiv aus. Ich werde «Ja» stimmen.
Jeder Vertrag beinhaltet Rechte und Pflichten. Je ausgewogener ein Vertrag ist, umso besser stimmen Leistung und Preis überein. Ausgewogene Verträge sind immer umstrittene Verträge. Darin liegt vielleicht auch die Begründung, weshalb die Abstimmungen über die Maastrichter-Verträge in Dänemark und Frankreich so knapp ausgegangen sind – einmal dagegen und einmal dafür. Irland hat vor allem deshalb klar positiv entschieden, weil es als «relatives Entwicklungsland» innerhalb der EG von den Maastrichter-Verträgen substantiell profitiert. Wer die Interessen der verschiedenen Länder am EWR-Vertrag analysiert, stellt fest, dass die Konzessionen, zu denen sich ein Land verpflichtet fühlt, mit zunehmendem Wohlstand steigen. Wohlstand neigt zu Besitzstandswahrung und Arroganz, Reichtum vergisst gerne die Herkunft und die Zukunft. Vor allem in einem ertrags- und leistungsbezogenen Staat ist die Erhaltung des Wohlstandes ein ständiger Kampf, eine dauernd sich wiederholende Überwindung, ein steter Einsatz mit Chancen und Risiken. Wer auf Chancen und Risiken verzichtet, verzehrt seinen Besitz. Er verbraucht, was von den Chancen nach Abzug der Risiken noch übriggeblieben ist.
Woher stammt unser heutiger Besitz, den wir zur Zeit stärker konsumieren als nachfüllen? Es ist unbestritten, dass eine arme Bevölkerung – wie sie die Schweiz während mehr als 600 von 700 Jahren Eidgenossenschaft hatte – dazu geeignet war, im Zuge der Industrialisierung innovative und kostengünstige Produkte herzustellen. Diese konnten in den lange Zeit offenen Märkten stets auch abgesetzt werden. Bevor Märkte für unsere Produkte offenstanden, haben wir Menschen exportiert – beispielsweise für fremde Kriegsdienste oder als Kaminfeger nach Mailand.
Dank unserer marktwirtschaftlich orientierten Bundesverfassung und – den zwar verankerten, inzwischen leider jedoch weitgehend ausgehöhlten Eigentums- und Freiheitsrechten – ist es gelungen, Produkte herzustellen und diese zusammen mit Dienstleistungen gewinnbringend – zur Hauptsache in die EG-Staaten – zu verkaufen. Damit konnte eine Bevölkerung von über sechs Millionen Menschen ernährt werden. Um das Überleben unserer Volkswirtschaft zu ermöglichen, geht es heute in erster Priorität darum, uns die Märkte offenzuhalten und zu erweitern. Dafür müssen wir die aus dem Wohl stand heraus errichteten protektionistischen Schranken abbauen. Im Gegenzug haben wir uns jedoch neuen Regelungen zu unterwerfen, die vor allem für jene nachteilig sind, die von unserem protektionistischen und verfilzten System profitiert haben. Mit den für die Schweiz neuen Regelungen bezweckt der EWR-Vertrag, Machtkonzentrationen zu vermeiden und im Interesse der Konsumenten Produkte untereinander vergleichbar zu machen. Solche Vorschriften sind sittlich – auch wenn damit die von der Schweiz selbst aufgebauten Markthemmnisse wegfallen. Es geht um offene Märkte, Konkurrenz und Frischluftzufuhr auf allen wirtschaftlichen Gebieten. Privilegien und muffige Stallwärme werden dabei eliminiert. Wenn jemand, der der freien Marktwirtschaft heute schon ausgesetzt ist, dies refüsiert, dann ist dies mit einem Hund vergleichbar, der den Austausch einer längeren Leine gegen eine sehr kurze ablehnt.
Inzwischen ist der wirtschaftsbezogene EWR-Vertrag durch eine fanatische Nein-Kampagne zu einem Glaubenskrieg verkommen. Unter grober Missachtung der jahrhundertealten schweizerischen «Freiheitsgeschichte» wird ein «Nein» propagiert, das den Verdacht aufkommen lässt, es gehe hier um mehr als die Rückweisung eines Wirtschaftsvertrages. Selbsternannte Retternaturen, die wohl schon seit Jahren nach dem «ertrinkenden» Staat Ausschau halten, sehen ihre Chance gekommen, die Sintflut zu provozieren, um den «auserwählten» Teil einer noch «richtig germanisch denkenden Nation» vor dem Untergang zu bewahren. «Herr, Du hast mir meinen Charakter gegeben, gib mir nun noch das Volk dazu!», lautet wohl das Abendgebet. Für die hehre Auferstehung eines solchen Volkes, verbunden mit der herbeigewünschten Armut, wird zur Zeit unzimperlich gekämpft. Nur so ist es möglich, dass «Ja-Repräsentanten», die erst kürzlich bei Wahlen das Vertrauen einer grossen Volksmehrheit erhielten und beliebt sind, an Veranstaltungen mit EWR-Gegnern niedergeschrien, erniedrigt und gedemütigt werden. Mit unschweizerischen Mitteln wird versucht, mit einem EWR-Nein schweizerische Traditionen zu erhalten.
Dies macht mich stutzig. Ein als Folge eines Volks-Neins nicht zustandegekommener Vertrag liesse sich möglicherweise später korrigieren. Doch es geht den Gegnern ja nicht um den Vertrag. Dieser ist für sie nur das Vehikel, um ihren Machtwahn zu befriedigen. Spürbar wird von einer, die ablehnenden Kantone umfassenden «Rumpf Schweiz» geträumt. Wenn sich die Neinsager heute schon in zunehmendem Masse anerbieten, die in Not geratene Schweiz zu retten, dann nehmen sie konsequenterweise an, dass diese Schweiz im Falle eines «Neins» auch tatsächlich in Not gerät. Die allmählich aufgebauten Szenarien erinnern mich in der Art – nicht in der Tragweite – an die dunkelsten Jahre dieses Jahrhunderts. Wenn äussere Umstände mit einem schicksalhaften Ereignis zusammentreffen, so lädt dies machtbesessene Menschen da zu ein, daraus Kapital zu schlagen. Der zunehmende Fremdenhass gepaart mit Arbeitslosigkeit, wirtschaftlicher Unsicherheit und Ungewissheit sind willkommen, um die Abstimmung um den EWR-Vertrag für eigene Zwecke zu missbrauchen und Angst und Missgunst zu säen. Aus staatsbürgerlicher Verantwortung und Sorge um die Zukunft unseres Landes stimme ich deshalb «Ja» zum EWR-Vertrag.
3. Dezember 1992
Dieser Beitrag stammt aus meinem Büchlein „Klare Meinungen – zu früh ausgesprochen?“, veröffentlicht im Jahr 1999.