«Ohne Ehre kann man nicht geschäften»

Abdruck aus dem Tages-Anzeiger vom 22. Juli 1999.
Er kaufte und schloss eine Textilfirma nach der andern. Der umstrittene und streitbare Unternehmer Adrian Gasser will in Zukunft auch Politiker sein. 

 

Mit Adrian Gasser sprachen Ueli Burkhard und Thomas Hasler 

 

Dürfen wir Ihnen gratulieren? Ein Unternehmer schafft es, dem Bundesgericht ein klares Bekenntnis zum Streikrecht abzuringen.

Ich glaube nicht, dass es einen Grund zur Gratulation gibt. Das Urteil zeigt viel eher auf, wie die Rechtsprechung in der Schweiz abweichen kann von den einschlägigen Gesetzesbestimmungen. Ich hätte lieber ein anderes Urteil gehabt.

 

Das glauben wir sofort. Als vehementer Gegner von Verbänden haben Sie den Gewerkschaften mit diesem Urteil den Rücken gestärkt. Das muss Sie doch fürchterlich ärgern. 

Nein, eigentlich nicht. Es wird sich auf die Länge nur die Frage stellen, ob die Gewerkschaften im Interesse der Arbeitnehmer und des Werkplatzes Schweiz handeln wollen oder nicht.

 

Die Gewerkschaften? Die haben Sie in Ihren Betrieben doch gar nie zugelassen.

Das ist nicht wahr. Ich habe nie gefragt, ob jemand bei den Gewerkschaften mit macht. Aber eines habe ich nie geduldet: Dass man den Unternehmer als Ausbeuter und die Angestellten als Ausgebeutete hinstellt. Diese Vorstellung ist falsch, insbesondere wenn man sie auf mich anwendet.

 

Gassers grosser Ärger

Zürich. – Das Urteil des Bundesgerichts über die Zulässigkeit des Streiks in Adrian Gassers Spinnerei in Kollbrunn (TA vom 21. Juli 1999) ärgert den streitbaren und umstrittenen Textilunternehmer nachhaltig. «Es zeigt, wie weit die Rechtsprechung in der Schweiz von den einschlägigen Gesetzesbestimmungen abweichen kann.» 

Für Gasser (56) liegt das Malaise nicht bloss bei der Justiz. Die Staatsgewalt schlechthin scheint ihm verdächtig. Darum empfinde er es als seine Pflicht, «in der Schweiz die Perversionen aufzuzeigen», sagt er im Gespräch mit dem «Tages-Anzeiger». Die Prozesse, die er geführt hat und noch immer führt, haben ihn bisher Millionen gekostet. 

Er sei sich gewohnt, Themen ohne Angst aufzugreifen und seine Meinung offen darzulegen. Das will er auch in Bern so halten, falls er im Herbst mit seiner Ständeratskandidatur im Thurgau erfolgreich ist. Unabhängig bleiben und direkt dem Volk Rede und Antwort stehen, ähnlich wie Christoph Blocher.

Der SVP-Tribun ist für den als Gewerkschaftsschreck bekannt gewordenen Spinnereibesitzer freilich kein Vorbild. «Blocher braucht sein Geld für die Befriedigung seiner Machtneurose», findet Gasser. Überdies sei er mit dem Unternehmer aus Ems in vielen Sachen ganz und gar nicht einverstanden. «Vor allem will ich auch nie in irgendeiner Richtung opportunistisch wirken.» 

 

Nach einem der vielen verlorenen Prozesse vor Bundesgericht haben Sie gesagt, es sei «unverzeihlich, mit einer solchen Naivität in einem von Korruption und Machenschaften geprägten Staat noch zu prozessieren». Haben Sie nichts dazugelernt?

Ich sage mir, vor allem auch als politisch Interessierter, folgendes: Desillusionierung ist der erste Schritt zur Verbesserung. Es gehört in der Schweiz einfach dazu, die Perversionen aufzuzeigen. Auch wenn die Chancen gering sind, gilt der Grundsatz des Sich-durchsetzen Wollens, um der Wahrheit möglichst nahe zu kommen.

 

Ist es nicht viel eher so, dass Adrian Gasser ein gegen sich gerichtetes Urteil einfach nicht akzeptieren kann? 

Nein. Im Übrigen habe ich gar nicht so viele Prozesse selber initiiert. Aber, und das ist wichtig: Ohne Ehre können Sie nicht geschäften. Es läuft doch immer gleich ab: Zuerst nimmt man einem die Ehre. Dafür braucht es die Medien. Dann nimmt man einem das Vermögen. Dafür braucht es den Staat ohne Gewaltentrennung. Am Schluss nimmt man einem das Leben. Und dafür braucht es die Meute. Ich weiss, dass ich etwas untypisch in der Landschaft stehe und vieles provoziere.

 

Apropos untypisch: Sie wollen für den Kanton Thurgau in den Ständerat. Haben Sie nicht ein paar schlechte Ge fühle im Zusammenhang mit Ihrer Niederlage bei den Nationalratswahlen vor zwölf Jahren?

Ganz und gar nicht. Es ist damals in vielen Versammlungen ganz hervorragend gelungen, aufzuzeigen, dass das Volk von der Demokratie, so wie sie bei uns funktioniert, oft doch eine sehr naive Vorstellung hat.

 

Dann ist Ihnen Christoph Blocher sicher ein Vorbild? 

Nein. Es ist eher umgekehrt. Blocher hat sich noch in den Neunzigerjahren gerühmt, zum Filz zu gehören. Ich habe schon 1987 darauf hingewiesen, was in der Schweiz nicht richtig läuft. Zudem bin ich mit Herrn Blocher in vielen Sachen ganz und gar nicht einverstanden. Vor allem wollte ich auch nie in irgendeine Richtung opportunistisch wirken. Mein Grundsatz ist: Tue recht und scheue niemand. Ich will mir bei diesen Aktivitäten nicht den Charakter erkälten.

 

Was fällt Ihnen denn sonst noch zum SVP-Nationalrat ein? 

Wie meinen Sie das?

 

Blocher hat Ihnen vor 15 Jahren die Kammgarnspinnerei Interlaken vorenthalten. 

Ich habe ihn vor elf Jahren als «Lausbuben» bezeichnet. Das war wegen Interlaken. Vor fünf Jahren sagte ich, der Blocher braucht sein Geld für die Befriedigung seiner Machtneurose. Dazu stehe ich noch heute. Und das macht ihn gefährlich. Ich bin erstaunt, dass die etablierten Politiker dies nie erkennen und anerkennen wollten. Aber ich will mich eigentlich zu ihm nicht weiter äussern…

 

… Zumal Sie der gegen Blocher angestrengte Prozess wegen Veruntreuung locker eine Million Franken gekostet hat. 

Wenn man eine Unternehmung hat, dann kann man ohne Ehre nicht leben. Erst ab einem gewissen Vermögen bekommt man die Ehre gratis. Im Übrigen hat das Gericht die Veruntreuung ja bestätigt. Aber man sagte, er habe das nicht vorsätzlich gemacht.

 

Wie verträgt sich Ihre Kandidatur mit Ihrer permanenten Kritik an der, wie Sie es nennen, «Polit-Wirtschafts-Establishment-Bande»? 

Ich werde auch in Bern absolut unabhängig bleiben und direkt dem Volk Rede und Antwort stehen. Ich hatte von der Schweiz immer das Verständnis, dass nicht die Organisationen, Gewerkschaften und Verbände die tragenden Säulen sind, sondern die Grundidee des Individuums. Sobald mehr als drei Leute zusammensitzen, egal für welche Idee, müssen sie sich ständig auf ihre Ideale besinnen, damit sie nicht in negative Trends abgleiten.

 

Geht es ein bisschen konkreter? 

Eine Gewerkschaft, die sich nicht immer daran erinnert, dass sie für ihre Leute und deren Interessen da ist, kommt dann auf Abwege, wenn sie sich auf politische Themen und andere Geleise begibt. Plötzlich spielt das Geld eine Rolle, die Funktionen oder Ämter. Am

Schluss bleiben nur noch Ideen, die geeignet sind, marketingmässig nach aussen getragen zu werden. Nach innen aber werden die Ideen missbraucht. So geht das vielen Institutionen, die einst mit Idealen angetreten sind. Vielleicht ist das der Grund, warum ich mit allen Menschen individuell sehr gut auskomme, aber mit der Anonymität ein riesiges Problem habe.

 

Ihr Plus sei neben der Unabhängigkeit auch die «sehr grosse Erfahrung als Unternehmer». Ihre Gruppe ist aber nicht die grosse Erfolgsstory. Sie sind doch als Unternehmer letztlich gescheitert. 

Nein, ganz sicher nicht. Wir haben in unserer Gruppe auch eine Maschinenindustrie mit einem Umsatz von 130 Millionen, wenn man die Reishauer-Beteiligung dazuzählt. Die Textilindustrie hat einen totalen Zusammenbruch erlitten. Das weiss jedermann. Man muss sehen, unter welchen Bedingungen ich in die Textilindustrie eingestiegen bin. Es waren alles Betriebe, die vor der Schliessung standen.

 

Warum haben Sie sie denn übernommen? 

Weil ich mir keine teuren Firmen kaufen konnte. Dafür hatte ich nie das Geld. Aber es ist richtig: Ich habe bis Anfang der Neunzigerjahre daran geglaubt, dass man Spinnereien mit modernsten Maschinen und wenigen qualifizierten Mitarbeitern betreiben und qualitativ hochstehende Baumwolle produzieren kann.

 

Und alle Betriebe sind jetzt zu. 

In Bürglen haben wir über Jahre hinweg gebaut, brachten Wertschöpfung von jährlich 20 bis 30 Millionen in die Schweiz. Und unsere Kunden sind auch gestorben. Das ging vielen anderen Betrieben, die eingegangen sind, auch so. Da können Sie nicht kommen und sagen, das sei ein Misserfolg.

 

Sie sagten einmal, sie kämen sich als Textilunternehmer vor wie der Betreiber ei nes Würstlistands auf der «Titanic». Eine ziemlich hoffnungslose Position für einen Unternehmer. 

Die Zustände in diesem Lande vertreiben immer mehr die Produktion. Man darf es niemandem verargen, wenn er merkt, dass man gewisse Sachen umstel len muss und rechtzeitig Korrekturen vornimmt.

 

Was heisst da rechtzeitig? Das Eingeständnis, mit «meiner Beurteilung der Zukunftsaussichten im Baumwollbereich völlig falsch» gelegen zu haben, kam reichlich spät. 

Die Erkenntnis, dass die Textilindustrie Probleme kriegt, kam im Sommer 1990. Aber da waren alle Investitionsentscheide schon gefällt. Ich habe nie verhehlt, dass damals für mich eine Wende statt fand.

 

Trotzdem betrieben Sie Anfang der Neunzigerjahre eine Politik des Lohndumpings mit dem Argument, die Textilindustrie könne nur mit billigen Arbeitskräften überleben.

Ich habe nie Lohndumping betrieben.

 

In Kollbrunn forderten Sie Leute auf, am Wochenende ohne Zuschlag zu arbeiten. In Bürglen entliessen Sie Personal, um es danach zu tieferen Löhnen und erst noch auf Abruf wieder zu beschäftigen. 

Ich habe so etwas nie gemacht…

 

… weil Sie es nicht machen durften. Aber der Wille dazu war eindeutig da.

Das ist eine Unterstellung. Meine Absicht war, die Textilbetriebe über die Runde zu bringen. 1994 hatten wir einen sehr hohen Schweizerfranken und eine ungünstige Kostenstruktur in der Textilindustrie. Die Krise traf uns voll. Da machte ich den Vorschlag, mit dem damaligen Bundesamt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (Biga) eine neuartige Lösung für eine teilweise Kurzarbeit zu finden. Statt dass die Arbeitslosenkasse 100 Prozent bezahlt, leistet sie nur 30 Prozent. Den Rest übernimmt die Firma. Das löste einen Riesenlärm aus.

 

Völlig zu Recht.

Nein. Das Biga sagte mir, dass das andere auch machen. Aber die Behörden wollten nicht, dass man diese Praktiken öffentlich mache. Hätte ich die Lösung mit Bern unter der Hand vereinbart, wäre ich in das Kontokorrent der Schweinereien hineingeraten, wo eine Hand die andere wäscht. Da mache ich nicht mit.

 

Sie haben hundert Argumente dafür, wer und was alles schuld war am Krebsgang Ihrer Gruppe. Aber kein Wort davon, dass Sie als Unternehmer falsch entschieden haben. 

Hören Sie mir doch einmal richtig zu. Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich bis Sommer 1990 an die Zukunft der Textilindustrie in der Schweiz glaubte. Und das war ein Fehlentscheid. Dazu stehe ich. Ich möchte aber auch auf die positive Seite hinweisen. Auf den Arealen in Baar, Kollbrunn und Roggwil haben wir sehr viel in die Umnutzung der Fabriken investiert.

 

Woher kam denn das Geld? Ihre Gruppe macht ja seit Jahren Verluste. Allein 1998 soll der Rückschlag rund 15 Millionen Franken betragen haben. 

Das ist betriebswirtschaftlich nicht richtig.

 

Wie sieht es denn wirklich aus? 

Die 15 Millionen stellen den handelsrechtlich ausgewiesenen Verlust dar. Betriebswirtschaftlich sind wir nicht in den roten Zahlen.

 

Wie viel Substanz ist in Ihrem Unternehmen überhaupt noch vorhanden?

Wir haben 501 Millionen Franken Aktiven und 390 Millionen Franken Fremdkapital in der Bilanz. Trotz all der schlechten Nachrichten, die man seit Jahren über meine finanzielle Lage verbreitet, bin ich immer noch da. Das Eigenkapital ist absolut intakt. Natürlich hätte ich gern weniger Schulden. Aber die Umstrukturierung der Lorze-Gruppe und die Umnutzung der Fabrikareale war kein Sonntagsspaziergang. Das kostete Geld.

 

Wie lange reicht der Schnauf noch? Wann meldet Ihre Lorze AG den Konkurs an? 

Die Lorze am Ende? Das ist nicht nur eine böswillige Unterstellung; das ist Kredit schädigend.

 

Offenbar brauchen Sie aber Geld. Sonst stünde der Verkauf Ihrer Beteiligung an Reishauer nicht zur Debatte. Wie viel hätten Sie gern pro Aktie? 

Entschuldigung, Sie sind nicht ganz richtig informiert. Zurzeit läuft eine Bewertung des Unternehmens. Gleichzeitig ist ein Prozess im Gang, bei dem es um die Eintragung der Aktien geht, die in unserem Besitz sind. Unsere Beteiligung an Reishauer beträgt 47 Prozent. Im Verwaltungsrat haben wir jedoch nichts zu sagen. Das ist einfach nicht in Ordnung.

 

Wenn Sie aussteigen, ist dieses Problem gelöst, und Sie kriegen erst noch flüssiges Geld.

Der Verkauf steht nicht im Vordergrund. Wir sind seit der Jahrhundertwende an Reishauer beteiligt. Wir sorgen uns um das Unternehmen. Stellen Sie sich einmal vor: Da beschliesst die vom Bankhaus Rahn und Bodmer angeführte Mehrheit gegen den Willen einer starken Minderheit, der Atag das Kontrollstellenmandat zu entziehen und es einer für diese Aufgabe nicht qualifizierten Treuhandgesellschaft zu übertragen. Das werden wir gerichtlich anfechten.

 

Man hört, Sie möchten Reishauer ganz übernehmen? Woher haben Sie denn das Geld? 

Wir verfügen über die nötigen Bankgarantien.

 

Falls der Kauf gelänge, wäre Adrian Gas ser sein Image als glückloser Textilunternehmer los und könnte als Maschinen industrieller neu starten. Ist das Ihre Vision?

Maschinenbau ist für uns nicht etwas völlig Neues. Die Lorze-Gruppe ist be reits in diesem Bereich tätig, nach der Aufgabe des Textilgeschäfts heute zu fast 100 Prozent.

 

Wie es zum Streikrecht-Urteil kam 

Am Dienstag (20. Juli 1999) hat das Bundesgericht seine mit Spannung erwartete schriftliche Begründung zum Streikrecht in der Schweiz den Parteien zugestellt (TA vom Mittwoch). Erstmals bejahten die Lausanner Richter ein grundsätzliches Streikrecht. Unter anderem wurde darauf verwiesen, dass die revidierte Bundesverfassung, «die im Wesentlichen das geltende Verfassungsrecht zum Ausdruck bringen will», die Zulässigkeit von Streiks aus «Ausfluss der Koalitionsfreiheit» ebenfalls anerkennt.

Der gerichtliche Streit entspann sich an der Schliessung der Baumwollspinnerei in Kollbrunn ZH 1994. Nachdem Adrian Gasser angekündigt hatte, er wolle die Arbeitsverhältnisse kündigen, die Mitarbeiter zu einem tieferen Lohn wieder einstellen und die Differenz bis auf 80 Prozent des ehemaligen Lohnes durch die Arbeitslosenkasse begleichen lassen, kam es am 21. März zu einem Warnstreik. Gleichentags kündigte Gasser den Grossteil der Arbeitsverträge auf den 31. Mai. Noch vor Ablauf dieser Frist, am 28. April, kündigten zahlreiche Mitarbeiter fristlos.

Laut Gericht war die fristlose Kündigung der Arbeiter «ungerechtfertigt». Trotz dem wurden auch die Kündigungen durch Gasser als missbräuchlich und deshalb entschädigungspflichtig beurteilt. Das Bundesgericht korrigierte mit seinem Entscheid das Urteil des Zürcher Obergerichts, das noch festgestellt hatte. ein Streik sei keine rechtmässige gewerkschaftliche Tätigkeit.

 

Wie sehen Sie Ihre Zukunft? 

Als Unternehmer und Politiker. Und zwar parteiunabhängig. So kann ich Themen anders hinterfragen und unter die Leute bringen, als wenn ich gebunden wäre.

 

«Desillusionierung ist der erste Schritt zu Verbesserungen», sagten Sie eingangs. Wenn Sie die Ständeratskandidatur nicht schaffen, werden Sie desillusioniert sein. Worin sehen Sie dann die Verbesserung?

Es ist nichts so schlecht, dass es nicht auch eine gute Seite hätte.

 

Dieser Beitrag stammt aus meinem Büchlein „Klare Meinungen – zu früh ausgesprochen?“, veröffentlicht im Jahr 1999.