Rede zum 1. August 1999 in Münchwilen TG

Liebe Münchwiler, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kinder,

Die Schweiz feiert heute Geburtstag. An einer Feier soll man dankbar zurückdenken, um aus der Geschichte zu lernen und um daraus die Verantwortung und Pflicht für die Gegenwart und die Zukunft zu erfassen.

Wenn wir Schweizer am Festtag der Eidgenossenschaft innerlich und äusserlich teilnehmen, so tun wir dies, weil wir unsere Gemeinde gern haben, aber auch unseren schönen Thurgau und unsere Schweiz. Deshalb sitzen wir zusammen mit der Familie, Kindern, Nachbarn, Behörden, Vereinen und politischen Parteien, also all denen, die eine Gemeinde ausmachen.

Unsere Liebe zum Vaterland verbindet uns mit stillem Stolz über die Leistung unserer Mütter und Väter. Und wir fragen uns gleichzeitig, ob wir – wie unsere Vorfahren – bereit und gewappnet sind, die Gegenwart und die Zukunft so zu meistern, dass unsere Kinder auch eines Tages auf uns stolz sein dürfen. Der Anspruch, den die Jugend an die Zukunft und an uns stellt, gibt uns das Recht und die Pflicht, das Geschehen in der Schweiz kritisch zu verfolgen und zu hinterfragen.

Unsere umstrittene Stellung im Herzen Europas, die Mobilität und die Informationsflut, das Problem des «Zuviels» heute im Gegensatz zum «Zuwenig» in der Vergangenheit weisen auf Probleme hin, die nicht vergleichbar sind mit denen von früher. Wir leben heute in einer Gesellschaft, in der Verzicht, harte Arbeit, Gemeinschaft, Ruhe und Musse verdrängt werden durch Anonymität, Hast, gedrängte Programme, Existenzangst und viele Sachzwänge auf hohem materiellem Niveau. Während ich mich als Kind noch abends, am Mittwoch- und Freitagnachmittag, an Samstagen und Sonntagen langweilen musste, was meine Phantasie anregte, sind heute schon unsere Kleinsten eingebunden in ein zeitraubendes Angebot unserer Konsumgesellschaft.

Vor diesem veränderten Hintergrund wollen wir innehalten und uns ein paar Gedanken machen.

Der Bund, wie schon der Name sagt, sollte uns einbinden und uns sicheren Halt geben, aber auch massvollen Widerstand. Bis nach dem Zweiten Weltkrieg haben es die Eidgenossen immer wieder verstanden, den Tendenzen der Zentralisierung durch Bern Widerstand zu leisten. So verblieb möglichst viel Autonomie bei den Gemeinden und den Kantonen, bis die letzten Jahrzehnte diese für die Schweiz existentiellen Grundregeln haben vergessen lassen und immer mehr von Bern aus dirigiert wurde. Den teuren administrativen Ballast beliess man bei den Gemeinden und dem Kanton, während man ihnen gleichzeitig die politische Gestaltungsfreiheit wegnahm. Der politische Föderalismus verschwand mehr und mehr, der administrative Föderalismus dagegen wurde ausgebaut, statt es gerade umgekehrt anzustellen. Zu Recht haben unsere Urväter – früher als unsere Nachbarn – erkannt, dass individuelle Freiheit nur dort verantwortungsbewusst gedeihen und in den solidarischen Dienst der Allgemeinheit eingebaut werden kann, wo die Strukturen übersichtlich und die Menschen einander nahe sind. Diese Voraussetzungen bietet der Bund immer weniger, der Kanton schon etwas besser, die Gemeinde hingegen am besten. Dies setzt aber voraus, dass in den Gemeinden ein Heimatgefühl besteht. Das Heimatgefühl ist ein emotionales Empfinden, das für eine gute Zukunft wichtig ist. Es formt sich aber nur, wenn man sich in die Sorgen der Nachbarn und Gemeindemitglieder einfühlt und so die Verbundenheit gegenseitig stärkt. Es bindet uns an den Boden und den Ort, wo wir wohnen, der uns zu Bürgern macht und uns sesshaft bleiben lässt. Wir sehen uns nicht dauernd im Kanton und in der übrigen Schweiz oder in der Welt um für neue Standorte mit beispielsweise steuerlichen Vorteilen. In unserer Heimat schöpfen wir den Mut und die Kraft, pflichtbewusste, hilfsbereite und nachsichtige, aber auch kritische, unbequeme, sparsame und freiheitsliebende – kurz – gute Bürger zu sein.

Aus dieser Überzeugung schöpfe auch ich die Kraft, meiner Sorge um die Zukunft hier freien Lauf zu lassen!

«Wir wollen frei sein wie die Väter waren, in keiner Not uns trennen und Gefahr!» So schwuren unsere Vorfahren! Sind wir noch frei? Haben wir unsere Geschicke noch in der Hand? Hat uns unser Wohlstand nicht immer mehr unvorsichtig werden lassen? Sind wir nicht Opfer unserer Bequemlichkeit geworden? Einer Bequemlichkeit, die uns blind macht und uns im Glauben lässt, wir seien doch nur eine Nummer im Getriebe der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Politik, könnten nichts bewegen und müssten deshalb auch keine Verantwortung tragen?

Diese Nachlässigkeit hat es möglich gemacht, dass unsere Gemeinden mehr und mehr Autonomie abgegeben haben und sich den kantonalen Vorschriften nun beugen müssen. Gesunder Menschenverstand und lokales Wissen wer den immer mehr ersetzt durch übergeordnetes Funktionärswesen. Gutmeinende Behördenmitglieder und bestqualifizierte Gemeindeangestellte verweisen uns immer mehr nach Frauenfeld, zum Staat. Dort stellen wir Bürger seit Jahren die gleiche Entwicklung fest. Der Bund, die schweizerischen Direktorenkonferenzen, die eidgenössische Steuerverwaltung, die Landwirtschaftsgesetzgebung und viele Vorschriften auf Bundesebene nehmen uns im Thurgau die erst 200jährige Freiheit still und leise –  vermeintlich versüsst mit finanziellen Zückerchen – wieder weg und führen uns zurück in eine neue Abhängigkeit. Den Schweizern begann es dann schlechter zu gehen, als sie anfingen, Gottvertrauen durch Staatsvertrauen zu ersetzen. 

«Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben!» Dies haben wir einst von unseren Vorfahren gelesen, und wir waren stolz darauf. Halten wir uns noch an diesen Schwur! Oder sind wir etwa im Interesse der Besitzstandswahrung gezwungen «in Knechtschaft zu streben»? 

Ob als gutgeschulter Bankangestellter, als Prokurist eines Grossbetriebes, ob als Handwerker, Hausfrau, Unternehmer, Landwirt, Gewerbetreibender oder Beamter der öffentlichen Dienste, immer mehr werden wir zu Handlungen gezwungen, deren Auswirkungen wir nicht kennen. Anonyme Stellen schreiben uns vor, was wir tun dürfen und was nicht. Ob wir dies nachvollziehen können, ist nicht gefragt, man will gar nicht, dass wir wissen, was wir machen. Immer mehr Menschen müssen anders handeln, als sie handeln würden, wenn es nach ihrem eigenen Wissen und Gewissen ginge.

Dieser Zustand ist für uns Bürger, aber auch für unser Land ungesund. Dessen müssen wir uns jedoch zuerst einmal bewusst werden. Desillusionierung ist der erste Schritt zur Besserung. Wir können wohl auch nicht alles sofort ändern. Aber wir sollten tagtäglich etwas tun für uns, für unsere Familien, für die Gemeinde und für das langfristige Wohl unserer Mitmenschen. Das öffnet die Augen und zeigt auf, was alles möglich ist ohne Staat. Wir müssen die Mutlosigkeit aufgeben und wieder nach Freiheit streben. Die Freiheit beginnt mit dem Willen zur Wahrheit. Niemand kennt die volle Wahrheit, doch wir müssen sie suchen, hinterfragen, ergänzen und aus sprechen. 

Aus dem Willen zur Wahrheit wächst der Wille zur Gerechtigkeit. Niemand verfügt über die volle Gerechtigkeit. Doch wir können uns wehren für andere, wir können schützen helfen und verstehen lernen.

Mit dem Willen zur Wahrheit und dem Willen zur Gerechtigkeit stellen wir automatisch dem anonymen Staat, aber auch uns selbst die notwendigen kritischen Fragen, die unsere Gemeinde, unser Kanton und unsere stolze Eidgenossenschaft brauchen. Dadurch wird unser Land ständig erneuert – ohne Verleugnung unserer Geschichte und Tradition. Damit geben wir uns die Freiheit, aufgewertet durch Verantwortung und Pflicht, wieder zurück. Eine Freiheit vor anonymen und fremden Mächten. Für diese Freiheit haben unsere Väter so leidenschaftlich gekämpft.

Wir dürfen nicht glauben, wir hätten den Mut dann schon, wenn es um Grosses geht. Wer den Mut im Kleinen nicht hat, hat ihn auch nicht, wenn es um Existentielles geht. Dann sei es nämlich zu spät, wird man sich entschuldigen.

Es ist heute einfacher, mutig zu sein und mögliche Nachteile in Kauf zu nehmen als früher. Während sich die Generationen vor uns, um überhaupt überleben zu können, häufig beugen mussten, braucht heute niemand mehr zu hungern, wenn er sich für das einsetzt, was er für richtig erachtet. Die Industrialisierung, die Rationalisierung und die Technologie haben dies möglich gemacht. Wir haben keine Ausrede mehr. Wir müssen unsere Zukunft gestalten. Diese wichtigste Aufgabe dürfen wir nicht tatenlos anonymen Finanzkreisen, staatlichen Stellen und Verwaltungen überlassen. 

Hier in Münchwilen, in jeder Thurgauer Gemeinde, im schönen Thurgau, müssen 

wir uns einsetzen, selbstsicher und selbstbewusst, um zu fördern, wo es um die Freiheit geht und um nein zu sagen, wo die Knechtschaft ausgebaut werden soll.

Die Gegenwart sind wir, die Zukunft jedoch sind unsere Kinder und Nachkommen. Besonders ihnen sind wir diese Haltung schuldig.

Um die Zukunft gestalten zu können, müssen wir auch eine positive Grundhaltung gegenüber dem Fremden annehmen. Selbstbewusste, in der Geschichte verankerte Schweizer waren sich ihrer Grundwerte bewusst und hatten deshalb keine Angst. Sie halfen einfach – den Hugenotten, den Juden, den Italienern, den Ungaren, den Tschechen usw. und stellten dann überrascht fest, dass aus dieser Hilfe die grösste Bereicherung für unser Land entstand. Man darf es aber nicht so weit kommen lassen wie heute, wo es denen, die kommen, oft besser geht als denen, die bei uns für die Ankommenden bezahlen müssen. Was aber das Verhältnis der Schweiz zum Ausland betrifft, sei festgestellt, dass die Schweiz von heute Durchzug braucht. Wir brauchen frische Luft. Pflegen wir den Willen zur Wahrheit und den Willen zur Gerechtigkeit, so wird uns das Mass nicht fehlen, um uns selbst zu schützen und trotzdem human innerhalb der Völkergemeinschaft zu leben und zu handeln. 

Denkt an die Worte Gertruds, wie sie Schiller in Wilhelm Tell zitiert: «Schau vorwärts Werner und nicht hinter dich!»

Ich wünsche Ihnen noch einen schönen 1. August!

 

Dieser Beitrag stammt aus meinem Büchlein „Klare Meinungen – zu früh ausgesprochen?“, veröffentlicht im Jahr 1999.