1. August-Rede 2000 in Sirnach

Liebe Sirnacherinnen, Liebe Sirnacher, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kinder

Jede Epoche hat ihre Stars und setzt sie für Ihre Zwecke ein. So wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert in allen Städten, an historischen Stellen und auf vielen Plätzen Denkmäler geschaffen, die auf die grossen Taten der alten Schweizer hinweisen sollten. St. Jakob an der Birs, Hans Waldmann, Morgarten, Willhelm Tell, Sempach, Adrian von Bubenberg usw. mussten hinhalten, um der Bevölkerung der Schweiz das Gefühl der Zusammengehörigkeit zu geben und den Schweizern den Sinn der Verantwortung für das Vaterland durch heere Empfindungen einzuflössen.

Zu jener Zeit des politischen Ausbruchs, der offenen Grenzen und der geistigen Internationalisierung brauchte die labile, künstlich geschaffene Willensnation Schweiz Patrioten. Dazu wurde, wo nötig die Geschichte zurechtgebogen, um Volk und Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Einklang und Gleichschritt zu bringen.

Deutsche Lexikone, gedruckt um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, schrieben über unser Land zusammengefasst:

„Die Schweiz ist ein Gebiet im Süden Deutschlands, bestehend mehrheitlich aus einer Bevölkerung alemannischer Abstammung, aufgeteilt in 25 Kantone und … soll später in das grosse deutsche Reich einverleibt werden.“

 

Damals durften wir und mussten wir den Feind von Aussen erkennen. Unsere Urgrossväter und Ahnen hatten klare und gemeinsame Vorstellungen über sich selbst und die Schweiz, und sie identifizierten sich mit ihr – trotz internen Spannungen wie es sie in Familien, Gemeinden und gesellschaftlichen Gruppierungen selbstverständlich auch damals gab.

Die Präambel der Bundesverfassung

„Im Namen Gottes, des Allmächtigen“

wurde ernst genommen und lieferte im Einverständnis zwischen Kirche und Staat – trotz konfessioneller Spannungen – den Aufhänger für eine subjektive, gottgewollte Einheit. Zu diesem Zweck vereinnahmte der Staat für sich alle Helden, Revoluzzer, Querulanten, Heiligen und Politiker und stellten sie ungefragt in den Dienst der Nation. Nicht was wahr ist, ist war, sondern was man glaubt, ist wahr, und damit wurde – damals wie heute – wahr, was wahr ist!

Zu jener Zeit führte der Bundesrat auch den Nationalfeiertag, den Abend des 1. Augusts, zur Erinnerung an die Geburtstunde der Eidgenossenschaft im Jahr 1291 auf dem Rütli ein. Dies alles half mit, dass die Schweiz in ihrer neueren Geschichte viele Krisen überstehen konnte. Stets jedoch wurden diese durch mehr oder weniger erkennbare Feinde im Ausland bewirkt und mussten alsdann innerschweizerisch aufgearbeitet und gelöst werden. 

Das nun ausgehende 20. Jahrhundert zeigte einen Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918, der wegen einer gewissen Deutschfreundlichkeit eine Spaltung der Schweiz hätten nach sich ziehen können. Der Zweite Weltkrieg von 1939 bis 1945 – die Gefahr kündigte sich schon Jahre im voraus an – brachte härteste Meinungskämpfe in unser Land, und die Sympathisanten diktatorischer Linien sahen in der grossen Wirtschaftskrise der dreissiger Jahre ihren Verbündeten. Der Zweite Weltkrieg wurde durch den Kalten Krieg abgelöst. Dieser brachte bis 1989 klare Fronten zwischen demokratischen und totalitären Regimen. Auf der einen Seite hatten wir den militanten Sozialismus und auf der anderen Seite einen Sozio-Kapitalismus mehrheitlich demokratischer Prägung.

Heute sind die Feinde von Aussen nicht mehr erkennbar. Die Werte haben sich verschoben. Mutter Helvetia läuft Gefahr, ins Altersheim abgeschoben zu werden. Der Staat ist zwar vorhanden – mehr den je – die tieferen Werte jedoch sind verschwommen oder verschwunden und haben modernen Götzen Platz gemacht.

Diese radikale Veränderung erleben wir auf den Frontseiten der Printmedien und auf den Bildschirmen. Es sind andere Helden als früher, die uns und unserer Jugend als nachahmenswert vorgestellt werden. Es sind Erfolgsmenschen, reich geworden aus Spekulationen, Fusionen und dem Verkauf von Illusionen. Wenn dabei die kassierten Beträge hoch genug sind, spielt es in der Öffentlichkeit keine Rolle mehr, ob sie in- oder ausserhalb des Gesetzes erzielt wurden. Recht hat, wer Erfolg hat. Dieses Erfolgskriterium entzieht der Ehre den Sinn, der Solidarität den Boden und der Wahrheit die Bedeutung.

Gleichzeitig erleben wir eine ökonomische Neuheit. Bis vor kurzem konnte das Kapital in der Regel Namen und Unternehmungen zugeteilt werden. Es waren, um nur einige Beispiele zu nennen, Namen wie Sulzer, Brown, Broveri, Hasler, Heberlein, Stoffel usw., die als greifbare Personen die Produktion und damit das Kapital vertraten. Es waren Namen, die zur Verantwortung gegenüber der Gesellschaft gezogen wurden und auch im eigenen Interesse diese Verantwortung wahrgenommen haben. Heute sind wir es selbst, der Mittelstand, die Gewerkschaften, die Arbeiter und Angestellten usw., die u.a. in Pensionskassen einzahlen, das diese durch gewiefte Financiers verwalten lassen. Durch die weltweit tausendfachen Milliarden-Beträge in den Pensionskassen, den Staatshaushalten, bei den Banken und den Versicherungen, um nur einige zu nennen, hat sich das Kapital heute veranonymisiert. Anonyme Bankers fühlen sich verpflichtet, die anonyme Geldgeber Milliardenbeträge irgendwo, an einem anonymen Ort mit anonym hoher Rendite anzulegen und üben damit anonyme Macht aus, ohne dabei zu wissen, dass sie Macht haben. Die Konsequenzen für unsere Bevölkerung und Wirtschaft sind unabsehbar, denn veranonymisiertes Kapital führt zu veranonymisierter Macht und somit zu einer Welt des Geschehens ohne namentlich bekannte Verantwortliche.

Diese für die Freiheit der Gemeinschaft und des Einzelnen gefährliche Entwicklung lässt den Eindruck aufkommen, das trotz längerer Schulzeit, der zunehmenden Zahl von Maturaabschlüssen und Hochschulabsolventen eine Interesselosigkeit eingeleitet ist, die weder mit der schulischen Bildung, noch mit der Information, sondern vielmehr mit einer Übersättigung einenteils und einer zunehmenden Komplexität der Themen andernteils zu tun hat. Eine Komplexität notabene in Gesellschaft und Staat, die viele davon abhält, die Pflichten der Demokratie einzusteigen, weil dies harte Knochenarbeit ist und zudem erfordert, dass man sich intensiv mit den zunehmend komplexer werdenden Fragen, jedoch auch mit einer zunehmend anspruchsvolleren Bevölkerung auseinanderzusetzen hat.

Diese Tendenz wird unterstützt durch eine gewaltige Informationsflut aller Art, die im Gegensatz zu früher das Sortieren und Qualifizieren sowie die Gewichtung der Information zum Problem macht. Internet, Radio, Fernsehen und Print-Medien konkurrenzieren nicht mehr allein über Inhalt, sondern mehr und mehr über den terminlichen Ablauf und deren schnellstmögliche Nutzung, bevor eine Information Stunden später wiederum wertlos wird.

Oberflächlich gesehen gewinnen wir eine grenzenlose Freiheit in der alles toleriert wird, jedoch machen kann, was er will und – wenn es ihm mit äusserlichem Erfolg gelingt – ist er sich des Applauses sogar sicher. Selbst der Staat, der einst zusammen mit den Kirchen, wenn auch nicht immer zum Wohle der Bevölkerung und oft mit Missständen verbunden, Schranken setzte und bewusst auf die öffentliche Meinung zwecks Zukunftssicherung unserer Heimat Einfluss nahm, wird heute nur noch dort wirksam, wo er mittels Gesetzen, Verordnungen und Bussen sowie Gebühren sich die Kassen füllen kann.

Diese wilden und überbordenden Zustände – einem Chaos vergleichbar – sind und wären gar nicht so schlecht, wenn sie wieder eingebettet und eingezäunt würden durch Verantwortung, Pflicht, Disziplin und Solidarität für die Nächsten. Dazu dienen uns die Grundwerte, die für die Entstehung der Eidgenossenschaft verantwortlich sind. Diese Grundwerte dürfen nicht weiter ausgehöhlt und durchlöchert werden.

Sie beruhen auf den zehn Geboten, die wir aus der tiefsten und ältesten Verfassung und Gesetzessammlung, nämlich dem alten Testament bzw. der jüdischen Geschichte, schöpfen, für uns lebensfähig gemacht durch das Christentum, welches basierend auf dem neuen Testament, uns eine ideale Gebrauchsanweisung einschliesslich Toleranzgebot – für Staat und Gesellschaft – kurz – für das Zusammenleben geliefert hat.

Ohne innerlich verankerte und durch Bürger und Staat gelebte und verteidigte Grundwerte wird die vermeintliche Freiheit zur Hölle. Einer Hölle der Unfreiheit, der schleichenden Korruption und der stillen Angst. Gefühle für Staat und Gesellschaft werden bald als lächerlich empfunden und eingefroren. Positive, von Idealen geleitete Stimmungen und Ideen werden sich bald nicht mehr umsetzen lassen.

 

Mit der Präambel

„Im Namen Gottes, des Allmächtigen“

gibt uns die Bundesverfassung den Mut und die Kraft, etwas Höheres anzuerkennen und nicht stur und ohne jede Grundsatzüberlegung staatlicher Macht zu huldigen und sich ihr zu unterwerfen.

Wir werden unserer Aufgabe nicht gerecht, wenn wir – bildlich gesprochen – in einem Zug mitfahren, dessen Richtung wir nicht kennen. Wir erfüllen unsere Pflicht nicht, wenn wir uns in diesem Zug lediglich damit begnügen, einen möglichst guten Platz zu ergattern, für das Reiseziel uns jedoch nicht interessieren. Die Komplexität des Staates, der Gesetze, der Verordnungen wie auch das von uns geäufnete anonyme Kapital haben dazu geführt, dass wir nicht wissen, ob wir anonyme Lokomotivführer haben, ob der Autopilot eingeschaltet ist oder ob wir uns ganz einfach in einem Blindflug befinden. Ein geordnetes Inneres im Zug, geleerte Aschenbecher und gutes Essen im Speisewagen sowie viele Kontrolleure sagen nicht aus über die Richtung des Zuges und die Absicht anonymer Macht. Wir laufen Gefahr, dass nicht mehr die souveränen Staaten sagen, wie geordnet und transparent das Kapital sein muss, sondern das anonyme Kapital – die neue Macht – durch die undurchsichtige Anlagepolitik den Staaten sagt, was diese zu tun haben.

Schon im Art. 5 Punkt 3 der Bundesverfassung werden wir praktisch gefordert:

„Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.“

 Dieser Grundsatz trifft die verpflichtende Annahme, dass einmal beschlossene Gesetze durch den Bürger nach Treu und Glauben eingehalten werden. Dieser Grundsatz wird durch den Staat und die Behörden ständig verletzt. Kein Gesetz und keine Verordnung tritt mehr in Kraft, ohne dass die Obrigkeit Treu und Glauben durch Misstrauen und Bezweiflung ersetzt und dem Bürger notabene zu seinen Lasten Kontrolleure, Prüfer, Polizisten, Formulare und Kostenrechnungen ins Haus schickt.

Wo sind aber die Bürger geblieben, die sich gegen diese Verachtung und dieses Misstrauen, ja gegen diese permanente Verletzung der Bundesverfassung wehren? Und wo sind die unabhängigen, nicht von Politikern gewählten Richter, die die Bürger vor der Verletzung der Bundesverfassung durch den Staat schützen?

Hier kommen uns die vom Staat im 19. Jahrhundert oft missbrauchten Helden der Schweizergeschichte zu Hilfe. Glauben Sie, Willhelm Tell würde sich in unserem Staat und in unserer Gesellschaft mit seiner Weigerung, Das Knie vor der staatlichen Macht zu beugen, zurecht finden? Wurde dieser Typus Mensch bei uns nicht deshalb so berühmt, weil er so selten ist!

Oder nehmen wir Henri Dunant, den Gründer des Schweizerischen Roten Kreuzes, der zu Recht oder zu Unrecht, in voller Opposition zu den staatlichen Würdenträgern stand und heute, würde er noch leben, dieses – sein Lebenswerk – nicht nur als wohltätige Organisation, sondern auch als PR-Instrument der Schweiz eingesetzt sähe. Wie stand es mit Adrian von Bubenberg, der erst in grösster Not 1486 für das Vaterland in Murten eingriff, als die Zwistigkeiten zwischen der Berner Obrigkeit und ihm nur in Anbetracht der existentiellen Gefahr aufs Eis gelegt werden konnten.

Halt hat man nur, wo man Widerstand hat. Ein gesunder Staat ist im Interesse seiner Bürgerinnen und Bürger auf diesen Widerstand angewiesen, sofern er im Bewusstsein, dass wir, die Bürgerinnen und Bürger, alle auch Teile des Staates sind, erfolgt.

 

Liebe Sirnacherinnen, liebe Sirnacher, liebe Anwesende

Ich bin der festen Überzeugung, dass auch eine Schweiz ohne ausländische Feindbilder eine Zukunft, Existenzberechtigung und Existenzpflicht hat. Dazu müssen wir unsere Zukunft nicht allein auf Werten wie „schöne Natur“, „fleissige Bevölkerung“, „Neutralität“ und „Bankgeheimnis“ bauen. Die von uns kumulierten und errungenen Werte, Traditionen und Bindungen sind stark genug, dass sie die Verwüstungen des „Lothar“, der nicht nur unsere Bäume und Wälder gebrochen hat, sondern in den letzten Jahren auch unsere Gesellschaft, die Industrie, die Wirtschaft und die Kommunikation gefegt ist, wieder aufzuforsten vermögen. Wenn unsere Arbeit und unser Sein auf unseren Grundwerten erfolgt, wird auch der Boden auf dem wir aufforsten gut sein. Wir wollen keine Monokulturen, sondern eine breite Vielfalt, in der die Kleinen wie die Grossen, der Mittelstand, die Blumen und die Disteln Platz haben. Die einen verstehen sich besser, die anderen schlechter, ohne dass der Förster in allen Belangen sofort und überall einzugreifen hat und eine vermeintliche Ordnung schafft. Die Sonne wird über die Vielfalt, die die Schweiz während Jahrhunderten ausgezeichnet hat, scheinen und damit die Freiheit durch gegenseitiges Zusammenwirken fördern. Tragen wir Sorge, dass unserem Boden nicht die Substanz entzogen wird – dass nicht zu viele Förster und Holzfäller jeden Tag über die kleinen und mittleren Bäume herfallen und auf ihnen herumtrampeln. Um die Kleinen und den Mittelstand müssen wir besorgt sein, damit davon einige auch wieder gross werden können. Der Wille dazu ist in Sirnach – und so hoffe ich – im Thurgau wie auch in der ganzen Schweiz vorhanden.

Deshalb darf ich Ihnen guten Mutes einen schönen 1. August wünschen und für Ihre Aufmerksamkeit herzlich danken. 

Adrian Gasser